Frankreich am Scheideweg: es geht um die Demokratie. Mal wieder.

Wahlanalyse

Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl in Frankreich ist alles offen. Zwar ist der amtierende Präsident Emmanuel Macron in der Führungsposition (27,84 %), aber dieses Mal gibt es für Marine Le Pen (23,15%) reale Siegchancen bei der Stichwahl am 24. April. Unsere Wahlanalyse.

Bulletins de vote Le Pen et Macron en 2017

Vor 20 Jahren, am 21. April 2002, war der Einzug von Jean-Marie Le Pen in den zweiten Wahlgang gegen den amtierenden Präsidenten Jacques Chirac und das Scheitern des linken Premierministers Lionel Jospin ein massives Erdbeben im politischen Leben Frankreichs. Am 1. Mai 2002 gingen über eine Million Menschen auf die Straße, um gegen die extreme Rechte zu demonstrieren. Am 5. Mai 2002 wurde Jacques Chirac mit über 80 Prozent der Stimmen gewählt. 2017, nach einer Amtszeit (Francois Hollande) voller Enttäuschungen für die Linke mobilisierte sich eine breite Bewegung, um Jean-Marie Le Pens Tochter Marine zu blockieren und für einen jungen Kandidaten zu stimmen, dessen angekündigtes Projekt darin bestand, die alte Welt aufzubrechen, das politische System Frankreichs zu verändern, und der versprach, dem unerbittlichen Aufstieg der extremen Rechte im Land ein Ende zu bereiten: Emmanuel Macron. Bilanz: Im Jahr 2022 sind es die selben Kandidaten, die in die Stichwahl gehen, zwar mit einem amtierenden Präsidenten in der Führungsposition (27,84 %), aber dieses Mal mit realen Siegchancen für Marine Le Pen (23,15 %)[1]. Jean-Luc Mélenchon hingegen scheiterte mit 21,95 % erneut knapp daran, seine Wette zu gewinnen, die Wähler der Linken und der Grünen sowie zahlreiche Nichtwähler um sich zu vereinen, um für eine Überraschung zu sorgen und in die zweite Runde einzuziehen.

Ein seltsamer Wahlkampf

Nach zwei Jahren Pandemie wurde der Wahlkampf durch die russische Invasion in der Ukraine durcheinandergewirbelt. Er fand in einem Klima der Unruhe und des Desinteresses an den Kandidaten und ihren Vorschlägen statt. Im Frühjahr 2021 versuchten die Linken und Grünen Parteien, sich zu vereinen, während im Herbst das Medienphänomen Eric Zemmour die Nachrichtensendungen, Titelseiten und Fernsehtalkshows dominierte. Die Themen “Einwanderung” und die rechtsradikale Verschwörungstheorie des grand remplacement (großen Austauschs) drangen in die Debatte ein, und zeigten, wie stark der Rechtsruck in der Debatte und im politischen Leben Frankreichs war. Ende 2021 versuchte eine Primaire populaire (Bürger*innen Urwahl) ein letztes Mal, die Kandidaten der Linken zu vereinen, und brachte schließlich im Januar eine zusätzliche Kandidatur hervor: Christiane Taubira, ehemalige Ministerin von Francois Hollande und Ikone der Linken, die mangels Dynamik genauso schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war. All diese Ereignisse schienen die Franzosen gleichgültig zu lassen. Es gab keinen politischen Moment, der den Wahlkampf wirklich geprägt hat. Das Fehlen einer echten öffentlichen und medienwirksamen Debatte über die Programme, die alle Kandidaten auf die Bühne gebracht hätte, hat nicht gerade dazu beigetragen. Und es hat sich so etwas wie Resignation, Müdigkeit und Politikverdrossenheit breitgemacht, vor allem bei den Jüngeren und weniger Privilegierten. Dies zeigte auch die Wahlenthaltungsquote am Sonntag, dem 10. April 2022: 42 % der 18- bis 24-Jährigen und 46 % der 25- bis 34-Jährigen haben sich enthalten[2]. Auf Seiten der beiden Hauptprotagonisten der Wahl blieb Marine Le Pen bei einem leisen Wahlkampf, während Emmanuel Macron an seiner Statur als regierender Präsident in der Krise festhielt.

Der leise Wahlkampf von Marine Le Pen

Marine Le Pen entschied sich dafür, in dieser Kampagne kein Risiko einzugehen, beschränkte ihre Medienauftritte auf ein absolutes Minimum und zog - wohl auch aus Budgetgründen, und weil sie wusste, dass sie in den großen Städten nicht punkten würde - den großen, spektakulären Kundgebungen Reisen vor Ort in zahlreiche Kleinstädte und Dörfer vor. Vor allem gelang es ihr, auf dem Hauptthema dieser Wahl zu surfen, auch wenn sie dabei ihre Lieblingsthemen, den Kampf gegen Einwanderung und die Einführung einer "nationalen Präferenz" (die jedoch immer noch zentral in ihrem Programm ist) in den Hintergrund treten ließ: die Kaufkraft (die laut einer Umfrage von Ipsos & Sopra Steria für 58 % der Franzosen das Hauptanliegen ist[3]). Gegenüber einem Amtsinhaber, der oft als "Präsident der Reichen" oder zumindest des "Frankreichs, dem es gut geht" wahrgenommen wird, und einem Konkurrenten auf ihrer rechten Seite, Eric Zemmour, einem Ideologen, der von der Verschwörungstheorie des großen Austauschs[4] besessen ist und sich wirtschaftlich eher mit den Sorgen der Bewohner des reichen 16. Pariser Arrondissements ( dort erhielt er 17, 5 % der Stimmen) als der Arbeiterklasse kümmert, entschied sich Marine Le Pen für eine "sozialere" Rhetorik, um das Frankreich anzusprechen, das seine Zukunft weniger optimistisch sieht. Sie versprach, die Mehrwertsteuer auf wichtige Produkte und insbesondere auf Benzin, Heizöl, Gas und Strom zu senken, die Autobahnen wieder zu verstaatlichen, um die Preise zu senken, das Renteneintrittsalter nicht auf 65 Jahre zu erhöhen und bestimmte Renten anzuheben - doch aber keine Erhöhung des Mindestlohns. Mathieu Gallard, Studienleiter beim Institut IPSOS hebt eine neue Trennlinie hervor, die heute stärker ist als die Stadt-Land-Spaltung: "43 % derjenigen, die "sehr zufrieden mit ihrem Leben" sind, haben Macron gewählt (vs. 21 % Le Pen), während 46 % derjenigen, die "überhaupt nicht zufrieden mit ihrem Leben" sind, Le Pen gewählt haben (und 4 % Macron). Marine Le Pen, auch wenn es da viel mehr um Rhetorik als mit echten sozialen Maßnahmen in ihrem Wahlprogramm verbunden ist, hat somit bei Haushalten mit einem geringeren Einkommen (sie vereint bei denjenigen, die weniger als 1250 € verdienen, fast 31 % der Stimmen auf sich, während Emmanuel Macron bei 14 % liegt) und bei Arbeitern und Angestellten Punkte hinzugewonnen.

Emmanuel Macron: ein Kandidat, der sehr viel Präsident und sehr wenig Kandidat war

Auf der gegenüberliegenden Seite hat Emmanuel Macron im Kontext der Gesundheitskrise, des Krieges in der Ukraine und der Tatsache, dass er auch die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union innehat, so gut wie keinen Wahlkampf geführt. Er entschied sich dafür, so lange wie möglich in seinem Präsidentenanzug zu bleiben und profitierte sogar von einem kurzen "Flaggeneffekt" (Anstieg der Umfragewerte um den Präsidenten in einer Krise) zu Beginn des Krieges in der Ukraine. Zweifellos überschätzte seine Umgebung den Einfluss der internationalen und europäischen Aspekte im Zusammenhang mit der Invasion in der Ukraine auf die Wahlentscheidung der Franzosen. Seine ersten Vorschläge richteten sich direkt an die Wähler der Rechten: Anhebung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre, Bezahlung von Lehrern "nach Leistung", Bindung der Auszahlung des Solidaritätsbeihilfe RSA an Arbeitsstunden - eine Positionierung, die ihm am Sonntag wahrscheinlich die Stimmen vieler Wähler der traditionellen Rechten sicherte und die Stimmen ihrer Kandidatin Valérie Pécresse absaugte. Der Versuch, dies zu korrigieren, indem er bei seiner einzigen großen Kundgebung vor dem ersten Wahlgang das Ruder nach links schwenkte und sogar eine Formel des revolutionären Kandidaten Philippe Poutou ("Unsere Leben haben mehr Wert als ihre Gewinne") benutzte, war für die weniger privilegierten Wählerinnen und Wähler wahrscheinlich nicht wirklich überzeugend. Eines ist jedoch unbestreitbar: Die beiden Favoriten der Wahl haben die alte politische Landschaft Frankreichs endgültig komplett durcheinandergebracht.

6,53 % der Stimmen für die beiden ehemals großen Regierungsparteien.

So erreichte die Kandidatin der Partei der ehemaligen Präsidenten Mitterrand und Hollande, Anne Hidalgo (PS), Bürgermeisterin von Paris, nach einem mühsamen Wahlkampf nur weniger als 2 % der Stimmen (1,75 %), während die Kandidatin der Partei Les Républicains, der Nachfolgerin der gaullistischen Partei, der RPR von Präsidenten Chirac und der UMP von Präsidenten Sarkozy, nicht einmal die 5 %-Marke erreichte (4,78 %). Eine Zahl symbolisiert somit die Explosion der politischen Landschaft in Frankreich: Die beiden Kandidaten der großen Volksparteien, die in den letzten 50 Jahren abwechselnd regiert haben, vereinten am Sonntag, den 10. April 2022, nur 6,53 % der Stimmen auf sich. Beide Kandidatinnen hatten es in diesem Wahlkampf nicht leicht, da sie von ihren jeweiligen politischen Apparaten kaum unterstützt wurden und Mühe hatten, die Alleinstellungsmerkmale ihrer Programme hervorzuheben. Valérie Pécresse musste auch die Kosten für eine Art "taktische Wahl" (le "vote utile") für den amtierenden Präsidenten im ersten Wahlgang tragen. Emmanuel Macron scheint also seine beiden Wetten gewonnen zu haben - die Wette im Jahr 2017, die Wähler der Sozialdemokratie auf seine Seite zu ziehen, und die Wette im Jahr 2022, die Konservativen implodieren zu lassen, um ihre moderaten Wähler für sich zu gewinnen. Dabei kommt es zumindest auf nationaler Ebene - die "historischen" Volksparteien und auch die Grünen behalten starke lokale und regionale Verankerungen -  zu einer Neugestaltung der politischen Landschaft die in drei Pole aufgeteilt ist: einen liberalen, pro-europäischen und sich als "progressiv" definierenden Pol, einen rechtsextremen Pol und einen Pol der radikalen Linken, der sich als "populär" definiert.

Mélenchon profitiert von taktischer Wahl der Linken. Aber nicht genug.

Jean-Luc Mélenchon, der Kandidat der Partei La France Insoumise, der die Bewegung "Populäre Union" anführte, hat die zweite Runde nur knapp verpasst (ihm fehlten 421 420 Stimmen). Das hätte sicherlich zu einer anderen Debatte und einer anderen Atmosphäre in den zwei Wochen zwischen den beiden Wahlgängen geführt. Unbestreitbar ist es ihm in den letzten Wochen und insbesondere in den letzten Tagen des Wahlkampfs gelungen, schrittweise die Stimmen der linken und grünen Wählerschaft zu gewinnen, indem er dazu aufrief, Marine Le Pen bereits im ersten Wahlgang zu blockieren, und dabei von zahlreichen Persönlichkeiten der Linken und der Zivilgesellschaft unterstützt wurde. Trotz einer ambivalenten Haltung zu Russland und Putin und den internationalen Beziehungen sowie einer ausgeprägten Euroskepsis haben viele sozialistische oder grüne Wählerinnen und Wähler bereits im ersten Wahlgang für ihn gestimmt, viele von ihnen eher aus einer Logik der "nützlichen Stimme" zugunsten der Linken als aus Zustimmung zum gesamten Programm. Der Kandidat scheint auch mit seiner Strategie, junge Wähler und Nichtwähler zu mobilisieren, Erfolg gehabt zu haben. Wenn nur die 18- bis 34-Jährigen gewählt hätten, hätten sich im zweiten Wahlgang Jean-Luc Mélenchon (rund 31-34 %) und Marine Le Pen (24-25 %) durchgesetzt. Die Frage bleibt, ob und wie die Nachfolge von Jean-Luc Mélenchon an der Spitze der Bewegung in den nächsten Jahren gesichert ist, oder ob seine Anhänger*innen auch andere Gesichter als die Schutzfigur, die er für sie ist, aufs Schild heben.

Das Klima? "In einem Wort"!

11 Minuten. So viel Zeit wurde in sechs Stunden politischer Sendung auf dem Sender France 2 dem Klima gewidmet. Eine Zahl, die das geringe Medieninteresse an diesem Thema deutlich macht, obwohl die Umwelt je nach Umfrage die zweit- oder drittgrößte Sorge der Franzosen ist, und obwohl der dritte Teil des IPCC-Berichts zu dem Schluss kommt, dass nur noch drei Jahre zum Handeln bleiben, um die globale Erwärmung unter 1,5 °C zu halten. Am selben Tag, an dem der IPCC-Bericht vorgestellt wurde, forderte die Journalistin Léa Salamé im staatlichen Radiosender France Inter einen Kandidaten auf, nur "in einem Wort" auf die einzige Frage zum Klima zu antworten. Vor diesem Hintergrund scheitern die Grünen einmal mehr daran, ihren Platz in den Präsidentschaftswahlen zu behaupten. Yannick Jadot konnte trotz guter Umfragen zu Beginn der Kampagne (um die 10 %) dem Sog der "nützlichen Wahl" nicht widerstehen und landete bei weniger als 5 % der Stimmen (4,58 %). Auch wenn dies das zweitbeste Ergebnis der Grünen bei einer Präsidentschaftswahl ist, die noch nie zu ihren Gunsten ausgegangen ist, ist es dennoch eine tiefe Enttäuschung. Den Grünen war es in den letzten fünf Jahren Macrons Präsidentschaft, die von tiefen Enttäuschungen in der Klima- und Umweltpolitik geprägt waren, gelungen, sich bei den letzten Kommunalwahlen 2020 als Bürgermeister*innen zahlreicher Großstädte durchzusetzen und bei den Europawahlen 2019 (mit 13,48 % der Stimmen) die Führungsposition des linken Spektrums zu sichern. Im internationalen und europäischen Kontext war es umso schwieriger, ein positives Narrativ durchzusetzen und die zahlreichen Lösungen aufzuzeigen, mit denen die notwendige ökologische Transformation eingeleitet werden kann. So drehte sich die Debatte ausschließlich um steigende Energiepreise und um die Kernenergie, die die meisten Kandidaten - mit Ausnahme von Yannick Jadot und Jean-Luc Mélenchon - als unerlässlich für die Sicherung der Energiesouveränität des Landes bezeichneten, obwohl Anfang April 24 der 56 Reaktoren in Frankreich nicht betriebsbereit waren und Frankreich nur durch einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren seine Ziele für die Emissionsreduzierung bis 2030 erreichen kann. Fragen der Mobilität, die jedoch durch die Gelbwestenbewegung 2018 wieder in den Mittelpunkt der Debatte gerückt worden waren, der Biodiversität und der Landwirtschaft wurden im Wahlkampf somit nur wenig oder gar nicht diskutiert. Dazu gibt die Auswahl der Kandidaten für die zweite Runde nicht gerade Anlass zu Optimismus, dass diese Themen in den nächsten zwei Wochen besser behandelt werden. Und die finanzielle Lage der Partei nach dieser ersten Runde macht die Zukunft der Grünen in Frankreich noch schwieriger: Unterhalb der 5%-Hürde haben sie keinen Anspruch auf die Erstattung ihrer Wahlkampfkosten und müssen einen Weg finden, die ausgegebenen 6 Millionen Euro zurückzuzahlen. Diese finanzielle Belastung könnte die Strukturen der Partei (Sitz in Paris, sowie Mitarbeiter/innen in der Parteizentrale) gefährden. Eine Spendenaktion wurde bereits gestartet, um bis zum 15. Mai 2 Millionen Euro zu sammeln, damit der Wahlkampf für die Parlamentswahlen geführt werden kann[5].

Die Frage lautet nicht mehr "Kann Marine Le Pen gewinnen?", sondern "Wie?".

Am Abend des ersten Wahlgangs sahen die Umfragen zur Wahlabsicht für den zweiten Wahlgang einen mehr oder weniger deutlichen Sieg für Emmanuel Macron vor (zwischen 51,5 und 54 % der Stimmen). Im Jahr 2017 hatte Emmanuel Macron mit 66,1 % der abgegebenen Stimmen gewonnen. Könnte Marine Le Pen also auch dieses Mal gewählt werden? Im Jahr 2021 veröffentlichte die Jean-Jaurès-Stiftung eine Analyse und schätzte, dass "mindestens eine" der folgenden Bedingungen eintreten müsste, um einen Sieg von Marine Le Pen im zweiten Wahlgang zu ermöglichen :

  • eine massive Übertragung der Wählerschaft der "moderaten" Rechten auf ihre Kandidatur;
  • eine "Entdämonisierung", die stark genug ist, um die Wähler eher zur Enthaltung als zur Gegenstimme zu bewegen,
  • eine ebenso starke Ablehnung von Emmanuel Macron bei seinen Gegnern wie die von Marine Le Pen.

Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs zeigen recht deutlich, dass diese drei Bedingungen tatsächlich erfüllt werden könnten.

  • Eine massive Übertragung der Wählerschaft der moderaten Rechten auf ihre Kandidatur;

Die Porosität zwischen den Wählern der moderaten Rechten und der extremen Rechten ist zu einer Realität geworden, wenn sogar der Kandidat für die Vorwahlen der Partei Les Républicains, Eric Ciotti, während der Kampagne seine Präferenz für einen Kandidaten der extremen Rechten gegenüber Emmanuel Macron im Falle eines zweiten Wahlgangs in einer solchen Konstellation zum Ausdruck gebracht hat.

  • Eine Entdämonisierung, die stark genug ist, um die Wähler eher zur Enthaltung als zur Gegenstimme zu bewegen.

Eric Zemmour (7,07 %), der zunächst als Konkurrent wahrgenommen wurde, diente letztlich sowohl als eine Art Blitzableiter (der den Blitz seiner äußerst umstrittenen Pro-Putin-Positionen abbekam, als es Marine Le Pen gelang, unter dem Radar zu fliegen) als auch als Stimmenreservoir für die Kandidatin der Rassemblement National - etwas, dass sie 2017 nicht hatte. Vor allem hat er durch seine noch ausgeprägtere Radikalität dazu beigetragen, Marine Le Pen in der Debatte ein "sympathischeres", moderateres und "milderes" Image zu verleihen, und damit zu ihrer Entdämonisierung beigetragen.

  • Eine ebenso starke Ablehnung von Emmanuel Macron bei seinen Gegnern wie die von Marine Le Pen.

Schließlich führt die Politik, die Emmanuel Macron während seiner fünfjährigen Amtszeit verfolgt hat (hartes Vorgehen gegen bestimmte Demonstrationen, Sicherheitsgesetze, die von vielen NGOs als besorgniserregend eingestuft werden, kleine verächtliche Sätze, eine umstrittene Bildungspolitik, sogenannte "symbolische" Maßnahmen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen wie die Senkung der Wohnbeihilfen für junge Menschen und insbesondere Studenten um 5 € pro Monat, Nichthandeln beim Klimaschutz), zu einer starken Ablehnung bei vielen Wählern, insbesondere aus dem linken Spektrum. Von denjenigen, die Jean-Luc Mélenchon gewählt haben, glauben 69 %, dass sich die Zukunft Frankreichs "verschlechtern" wird, wenn Emmanuel Macron wiedergewählt wird (70 % glauben, dass dies bei Marine Le Pen der Fall wäre). Diese Ablehnung könnte dazu führen, dass diese Wähler nicht zur Wahl gehen.

Bisher haben Yannick Jadot (Grünen), Anne Hidalgo (Sozialistische Partei), Valérie Pécresse (Les Républicains) und Fabien Roussel (Kommunisten) klar dazu aufgerufen, "einen Macron-Zettel in die Wahlurne zu legen", um die Wahl von Marine Le Pen zu verhindern. Die Partei Les Républicains nahm nicht die gleiche Position wie ihre Kandidatin ein und forderte stattdessen wie Jean-Luc Mélenchon dazu auf, dass "keine Stimme an Marine Le Pen gehen darf". Die Wahl von Marine Le Pen bleibt zwar unwahrscheinlicher als die von Emmanuel Macron, ist aber nicht mehr ausgeschlossen. Der Wahlkampf zwischen den beiden Runden wird daher mit einem hohen Risiko verbunden sein. Die Fernsehdebatte zwischen den beiden Kandidaten am 20. April 2022, eine Institution des politischen Lebens in Frankreich, wird besonders aufmerksam verfolgt werden, nachdem Marine Le Pen 2017 einen schweren Misserfolg erlitten hatte. Es sollte nicht unterschätzt werden, dass es für viele linke Wähler das zweite Mal in Folge bei einer Präsidentschaftswahl und für einige das dritte Mal in 20 Jahren demokratischen Lebens ist, dass sie für einen Kandidaten stimmen müssen, dessen Ideen und Programm sie nicht teilen, um eine Kandidatin zu blockieren, die unter dem Amt des ersten Kandidaten nicht schwächer geworden ist. Emmanuel Macron muss den linken Wählern etwas bieten können, um ihre Stimme zu sichern: Seine Wahl hängt von ihnen ab und nicht mehr nur von einer Zustimmung zu seinem ursprünglichen Wahlprogramm.

Wiederbelebung der Demokratie und der Zivilgesellschaft: eine große Herausforderung für die nächsten fünf Jahre.

Diese erneute Konfrontation zeigt, dass das politische System Frankreichs, das auf die Figur des Präsidenten fokussiert ist, und das politische Leben Frankreichs, das von den Präsidentschaftswahlen dominiert wird, an einem Scheideweg angekommen sind. Der Wahlmodus führt zu einer Debatte, die sich mehr auf Persönlichkeiten als auf Programme konzentriert. Es führt zu taktischen Entscheidungen und zu einer starken Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht mehr angemessen repräsentiert fühlen. Obwohl viel für sie auf dem Spiel steht, geht fast die Hälfte der jungen Menschen nicht zur Wahl. Dies muss ein starkes Signal sein und gehört werden. Unabhängig vom Ergebnis am Sonntag, dem 24. April 2022, ist die Wiederbelebung der Demokratie in Frankreich eine eindeutige Aufgabe, die vor allem durch eine Stärkung der Zivilgesellschaft erreicht werden kann, deren Raum in den letzten Jahren leider immer mehr geschrumpft ist. Dies wird mit Sicherheit ein wichtiges Thema der nächsten fünfjährigen Amtszeit sein, das Emmanuel Macron unbedingt aufgreifen muss, wenn er wiedergewählt wird. Marine Le Pen verspricht, das Verhältniswahlrecht einzuführen - wie viele Kandidaten und Präsidenten vor ihr - und die Verfassung zu ändern, um eine Rechtshierarchie zwischen Franzosen und Ausländern (die nationale Präferenz) einzuführen. Um ihr Programm umzusetzen, muss die gewählte Person jedoch mit der Mehrheit im Parlament zurechtkommen, das am 12. und 19. Juni 2022 gewählt wird. Auch wenn der Präsident im politischen System Frankreichs eine herausragende Stellung einnimmt, ist es die Mehrheit in der Nationalversammlung, die den Premierminister und die Regierung ernennt. Die Parlamentswahlen sind somit eine Art dritte Runde der Präsidentschaftswahlen, die, wie auch die Stichwahl am 24. April 2022, noch nicht entschieden ist.

 

 

[4] Die Verschwörungstheorie, laut deren die Franzosen schrittweise und absichtlich durch nichteuropäische Bevölkerungsgruppen, die in erster Linie aus dem subsaharischen Afrika und dem Maghreb stammen, "ersetzt" werden

[5] Auch entscheidend für die Finanzierung, da öffentliche Gelder in Höhe von etwa 1,4 € pro abgegebener Stimme an Parteien vergeben werden, die in mindestens 50 Wahlkreisen mehr als 1 % erreicht haben.